Beschreibung:
Das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt so viel wie die Ärmsten 50% zusammen. Genau genommen waren es 2022 die reichsten 1,1% der Bevölkerung, die 45,8% des Gesamtvermögens besaßen (Quelle: Statista). Angesichts dieser absurden Ungerechtigkeit, die durch diese abstrakte Zahl bei weitem nicht greifbar genug wird, denken wir, dass diese wichtigen Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen in unserer Gesellschaft wie auch in der grünen Ecke noch dezidierter diskutiert werden müssen. Wir wollen uns zunächst den Ist-Zustand anschauen. Besondere Berücksichtigung soll hier der Einkommens und Vermögensungleichheit zukommen, aber auch Fragen von Klassismus, ökologischer Ungerechtigkeit und Profitlobbyismus werden thematisiert. Nach diesem kurzen Input wird dann der Raum für politische Diskussionen geöffnet. Hier sollen verschiedene geläufige, sowie weniger geläufige Lösungsansätze diskutiert werden. Darüber hinaus wollen wir hier auch die systemische Ebene anschneiden, genau wie Fragen des Zielkonflikts zwischen Arbeitsanreiz und Verteilungsgerechtigkeit beleuchten. Zuletzt ist uns besonders wichtig, dass Teilnehmerinnen mit praktischen Ideen aus diesem AG Treffen hervorgehen, dementsprechend soll sich die Erarbeitung dieser Handlungsansätze als roter Faden durch das Treffen ziehen! Wir laden auch ausdrücklich Stipendiatinnen ohne fachliches Vorwissen unsere Diskussion zu bereichern.
von Jukka
Wenn wir über Verteilungsfragen sprechen, dann schauen wir dabei meistens auf ökonomische oder soziale Aspekte. Wie viel Geld hat jemand zur Verfügung? Über was für einen sozialen Status verfügt er oder sie? Was wir dabei häufig vergessen, ist die Tatsache, dass es auch ökologische Dimensionen von Verteilungsgerechtigkeit gibt. Das Konzept vom “Ökologisch Ungleichen Tausch” (siehe u.a. Hornborg 1998, Givens et al. 2019) versucht zu beschreiben, welche Ungleichheiten mit Bezug auf die Umwelt auftreten und wie wir diese besser verstehen können.
Die Grundlage dafür bilden häufig globale Handelsbilanzen, die auf ihre ökologischen Externalitäten im Verhältnis zu ihrer ökonomischen Wertschöpfung hin untersucht werden. Ein Beispiel: In Bolivien wird eine Tonne Lithiumerz abgebaut, die anschließend nach Deutschland verschifft wird, um dort Batterien für E-Autos herzustellen, die dann hier verkauft werden. Wie viel Wasser wird bei dem Abbau im südamerikanischen Regenwald verschmutzt gegenüber der Menge, die in der mitteleuropäischen Landschaft verschmutzt wird? Und wie viel des Gewinns, der beim Verkauf der Batterie entsteht, fließt (runtergerechnet auf den Anteil des Lithiums an der gesamten Batterie) nach Bolivien gegenüber dem Anteil, der in Deutschland bleibt?
Die Theorie vom “Ökologisch Ungleichen Tausch” besagt, dass es in der Regel Länder des Globalen Südens sind (Peripherie), die gegenüber den Ländern des Globalen Nordens (Kern) die höheren ökologischen Degradierungen bei niedrigeren ökonomischen Vorteilen erfahren. Häufig ist es so, dass in der Peripherie Rohmaterialien abgebaut werden und einfache Güter produziert werden, die nicht teuer verkauft werden können, aber erhebliche Umweltbelastungen mit sich bringen. Im Kern dagegen werden diese Primärprodukte dann verarbeitet, veredelt und schließlich teuer verkauft, wobei verhältnismäßig wenige Umweltbelastungen anfallen. Der absolute Großteil des ökonomischen Gewinns bleibt aber trotz dieser Ungleichheit in der Kernländern. Dazu kommt, dass nach Konsum und Nutzung der Produkte die Abfälle in vielen Fällen wieder in die Peripherie verschifft werden, die daher noch einmal die ökologische Auslagerung der Kernländern ausbaden muss.
Diese Theorie ist noch verhältnismäßig neu und unerprobt, allerdings gibt es einige Studien, die darauf hindeuten, dass die Empirie Schlussfolgerungen dieser Art zulässt (Dorninger 2021, Bruckner 2023). Dadurch würde unter anderem auch die ökologische Kuznets-Kurve, die reicheren Ländern ab einem bestimmten Punkt in ihrer Entwicklung eine geringere Umweltbelastung prognostiziert, in Frage gestellt werden. Es mag der Fall sein, dass in einem reichen Land irgendwann lokale Verschmutzungen nicht mehr weiter zunehmen. Wenn diese Verschmutzungen allerdings in ärmere Länder ausgelagert werden und daher nicht mehr in den Bilanzen der reichen Länder auftauchen, ist dem Planeten als Ganzes natürlich nicht wirklich geholfen.
Wir sehen also, dass ökologische Verteilungsungerechtigkeiten globaler Natur sind und durchaus im Kontext von historischer Ausbeutung und Imperialismus gesehen werden können. Die Menschen im Globalen Norden leben ihren Konsum auf Kosten der Menschen und deren Umwelt im Globalen Süden aus, ohne dass es sie ernsthaft etwas kostet. Diese Ungleichheiten gilt es zu thematisieren und in politische Diskussionen einfließen zu lassen.
Quellen:
Bruckner, B., Shan, Y., Prell, C., Zhou, Y., Zhong, H., Feng, K., & Hubacek, K. (2023). Ecologically unequal exchanges driven by EU consumption. Nature sustainability, 6(5), 587-598.
Dorninger, C., Hornborg, A., Abson, D. J., Von Wehrden, H., Schaffartzik, A., Giljum, S., ... & Wieland, H. (2021). Global patterns of ecologically unequal exchange: Implications for sustainability in the 21st century. Ecological economics, 179, 106824.
Givens, J. E., Huang, X., & Jorgenson, A. K. (2019). Ecologically unequal exchange: A theory of global environmental injustice. Sociology Compass, 13(5), e12693.
Hornborg, A. (1998). Towards an ecological theory of unequal exchange: articulating world system theory and ecological economics. Ecological economics, 25(1), 127-136.
von Till
„Ungleichheit ist der Preis jeder Zivilisation“ (Orwell in 1984; 1949).
Mit diesem Satz drückt George Orwell ein Selbstverständnis aus, welches seit mindestens 200 Jahren unser Geschichtsbewusstsein dominiert. Es scheint uns schon fast intuitiv, dass sobald sich Menschen zu größeren Gruppen zusammenfinden, sich notwendigerweise Hierarchien bilden und eine soziale Kluft entsteht.
Im folgenden Text soll dieses Selbstverständnis in Frage gestellt werden und ein kurzer Rückblick auf die Entstehung und Entwicklung von sozialer Ungleichheit gegeben werden. Die hier behandelte Ungleichheit bezieht sich immer auf Machtunterschiede und Differenzen im Zugang zu Ressourcen.
Rousseaus langer Schatten
Jean-Jacques Rousseau (1712 - 1778), beeinflusst von den Berichten über die Ureinwohner Mittelamerikas, formulierte in seiner “Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes“ eine erste Erzählung wie wir uns von egalitären Gruppen zu ungleichen Gesellschaften entwickelten.
Laut Rousseau existierte der Mensch zunächst in einem Urzustand. Ein Zustand, wie im Paradies, in dem der unschuldige Mensch im Einklang mit der Natur und frei von Lastern, Wettkampf und Krieg lebte. Als Jäger und Sammler konnten sich die Menschen in kleinen egalitären Gruppen organisieren (Rousseau, 1755). Erst die Neolithische Revolution, der Biss in den Apfel, beendete unser glückseliges Dasein und stürzte uns in eine Existenz, die beherrscht wird von Eigentum, staatlicher Macht, Ungleichheit und Krieg.
Durch die Entstehung von Privateigentum und die Möglichkeit zur Akkumulation von Ressourcen und dem damit verbundenen Bevölkerungswachstum waren wir gezwungen, uns in größeren Gruppen zu organisieren. Durch die Entstehung von Städten und “Zivilisation“ folgte zwar eine kulturelle Revolution, ein Rechtssystem und Handel, aber es führte auch zu der Notwendigkeit von Hierarchien, staatlicher Kontrolle und Ungleichheit (Fukayama, 2011)
Auch Marx erkennt eine Vorkapitalistische Produktionsweise an, in der es keine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gegeben hat. Die gleichmäßige Verteilung der hergestellten Erzeugnisse wurde erst durch die Entstehung des Privateigentums und das Aufkommen von Arbeitsteilung beendet (MEW, Bd. 19).
So zieht sich ein Geschichtsverständnis, von Rousseau über Marx zu Fukayama, welches eine schicksalshafte Entwicklung der Ungleichheit propagiert. Aus einer historischen Notwendigkeit werden dadurch existierende Hierarchien akzeptiert und teilweise auch legitimiert.
David Graeber und David Wengrow erforschen in ihrem Buch ”The Dawn of Everything“ eine neue Sichtweise, die dieser historischen Notwendigkeit widerspricht. Sie zeigen anhand vieler Beispiele, wie flexible gesellschaftliche Ordnungen vor der Neolithischen Revolution und auch danach gewählt wurden (Graeber & Wengrow, 2021). Nach ihren Forschungserkenntnissen seien Eigentums- und Machtverhältnisse also nicht „gottgegeben“, sondern das Resultat eines gesellschaftlichen Willens. Ungleichheit als auch das gesellschaftliche System selbst sei demnach kein Gebot, sondern eine Entscheidung, die immer wieder aufs Neue verhandelt werden muss.
Kurze Geschichte der Ungleichheit
Zugegebenermaßen, waren die letzten 5000 Jahre jedoch geprägt von systematischer Ungleichheit auf ökonomischer, sozialer, politischer und kultureller Ebene. Von Sklavenhaltergesellschaften, hin zu feudalen Produktionsweisen und Ständegesellschaften über Kolonialismus, der Industriellen Revolution bis zum modernen Kapitalismus zieht sich Kontinuierlich eine Kluft zwischen einer reichen Elite und einer Masse der Ausgebeuteten. Während die Legitimierung sich der Zeit anpassten, blieben die Verhältnisse ähnlich. Begründet durch Gottes Wille, Rassismus oder der Eigenverantwortung von Wohlstand trug die ökonomische Ungleichheit auch immer zu einer sozialen Ordnung bei.
Durch die Französische Revolution verbreitete sich die Idee der Gleichheit in Mitteleuropa und führte zu einem gesellschaftlichen Bewusstsein, welches die Ständegesellschaft in Frage stellte. Mit der industriellen Revolution verringerte sich die Bedeutung des Adels und wurde durch eine neue Elite abgelöst. Weniger das Blut, als Besitz und Bildung zeichneten die neue Oberschicht aus. Ganze Wirtschaftszweige gerieten dabei unter private Kontrolle. Besonders in den USA bildeten sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mächtige Monopole heraus, die Wirtschaft und Politik dominierten. Durch Rockefellers Öl Imperium, Carnegies Stahlwirtschaft und J.P. Morgans Monopole in der Kohlewirtschaft, Marine, Eisenbahn und Telegraphie besaßen 3 Männer mehr Macht als der amerikanische Präsident (Kapitalismus made in USA; ARTE, 2023). Dieser neue Superreichtum musste angesichts der weit verbreiteten Armut irgendwie legitimiert werden.
Carnegie lieferte mit „The Gospel of Wealth“, eine Rechtfertigung von Vermögensungleichheit welches bis heute das Bild der Superreichen in den USA prägen sollte. Nach Carnegie sei Ungleichheit richtig und wichtig, da sie die Anreize setzt damit die Fähigsten und Fleißigsten Millionäre werden können. Als diese haben sie jedoch die Pflicht ihr Vermögen für philanthropische Zwecke zu nutzen (Carnegie, 1889). Sie sollen also so reich wie möglich werden, damit sie nach eigenem Ermessen dieses Vermögen verteilen können. Dieser Spenden-Ablasshandel hat bis heute Tradition in den USA und wird von der Gesellschaft geachtet. Fragen nach Ausbeutung oder demokratischer Verteilung müssen danach nicht mehr gestellt werden.
Umverteilung und Neoliberalismus
Im 20. Jahrhundert gab es eine Zeit, in der es zu einer Angleichung der Vermögens- und Einkommensverhältnisse gekommen ist, eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs und des Wohlstands. Piketty spricht von der großen Umverteilung zwischen 1914 und 1980 (Piketty, 2022). Durch Arbeitskämpfe und Druck von Gewerkschaften wurden höhere Löhne erstritten, Arbeiter erhielten eine höhere Qualifizierung und soziale Absicherung. Zusätzlich zu einer Angleichung der Einkommen, führten viele westliche Staaten eine deutlich progressivere Steuerpolitik ein (Piketty, 2022). Gerade während des 2.WK lag der Spitzensteuersatz bei einem Vielfachen von heute. Allen voran die USA mit 94% (Income tax in the United States; Wikipedia). Durch diese Umverteilung, einen starken Sozialstaat und starkes Wirtschaftswachstum begann sich die Schere zwischen Arm und Reich langsam zu schließen.
In den 80er Jahren nahm das Wirtschaftswachstum in Europa und den USA langsam ab, die Märkte waren gesättigt. Als Reaktion erhielt die von Hayek maßgeblich geprägte Theorie des Neoliberalismus einen Aufschwung und der Prozess der Umverteilung stoppte. Mit der Wahl Thatchers in Großbritannien und Ronald Reagans in den USA begann eine Zeit der Deregulierung, Steuersenkung und eine Verkümmerung des Sozialstaates (Kapitalismus made in USA; ARTE, 2023). Die Folge waren ein enormer Anstieg der sozialen Ungleichheit und ein Rückzug des Staates aus den Bereichen der menschlichen Grundversorgung wie Gesundheit, Bildung und Ernährung. Das erste neoliberale Experiment wurde bereits 1973 in Chile durchgeführt. Nach dem durch die CIA unterstützen Putschs Allendes und dem Machtgewinn von Pinochet wurde der Großteil des Staatseigentums privatisiert, inklusive der reichen Kupferminen und der Trinkwasserversorgung. Am Beispiel Chiles erkennt man, dass Neoliberalismus nicht zwangsläufig an demokratische Strukturen gebunden ist, sondern auch innerhalb von Diktaturen sehr gut funktionieren kann.
Seit den 80er Jahren haben sich neoliberale Grundüberzeugungen tief in unser gesellschaftliches Bewusstsein eingeprägt. So wird der Zusammenhang zwischen Steuersenkungen und Wirtschaftswachstum immer noch häufig propagiert und das Bild des Staates als schlechter Unternehmer ist weithin akzeptiert. Im Zusammenhang mit der Überzeugung, jeder könne es schaffen und wer reich sei, der soll zwar freiwillig etwas abgeben, aber nicht vom Staat gegängelt werden, führt zu einem Wahlkampf, in dem Steuern und Umverteilung kaum noch eine Rolle spielen. Das, obwohl eine durch den Staat durchgesetzte Umverteilung bei den meisten Menschen äußerst beliebt wäre (Candeias, 2022). Es gibt also einen neoliberalen öffentlichen Diskurs und gleichzeitig eine Mehrheit, die sich eine größere soziale Gerechtigkeit wünscht.
Was bleibt ?
Vermögensungleichheit sowie eine kapitalistische Gesellschaftsordnung ist nicht gottgegeben, es ist keine Notwendigkeit der menschlichen Natur oder ein Systemzwang, es ist eine politische Entscheidung. Dass Regierungen die Möglichkeiten haben, Verteilungsgerechtigkeit umzusetzen, ist historisch belegt. Woran scheitert es also? Ist es der politische Wille? Mit Sicherheit. Aber gibt es auch einen gesellschaftlichen Willen, der diesem entgegentreten könnte? Meiner Ansicht nach gibt es ein Potential für diesen, doch dieser muss in allen Bereichen des menschlichen Lebens erkämpft werden.
Quellen
Andrew Carnegie (1889): The Gospel of Wealth.
Kapitalismus made in USA - Reichtum als Kult (1/3) (2023). ARTE, 03.11.2023.
Fukuyama, Francis (2011): The origins of political order. From prehuman times to the French Revolution. 1. ed. New York, NY: Farrar Straus and Giroux.
Graeber, David; Wengrow, David (2022): Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Stuttgart: Klett-Cotta.
Jean Jaques Rousseau (1998): Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Stuttgart: Reclam (Universal-Bibliothek, 1770).
Mario Candeias (2022): Spurwechsel. Studien zu Mobilitätsindustrien, Beschäftigungspotenzialen und alternativer Produktion : eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Hamburg: VSA Verlag.
Marx, Karl; Engels, Friedrich (1987): Werke. 9. Aufl., unveränd. Nachdr. der 1. Aufl. 1962. Berlin: Dietz.
Orwell, George (2017): 1984. Roman. Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch, 2. Auflage. Berlin: ullstein.
Piketty, Thomas (2022): Eine kurze Geschichte der Gleichheit. München: C.H. Beck.
von Renke
Was ist soziale Ungleichheit?
Soziale Verteilungsgerechtigkeit durchzieht Gesellschaften weltweit. In modernen Demokratien stellt es Entscheidungsträger*innen vor enorme Probleme und ist der Ausgangspunkt eines großen Forschungsfeldes. Von den Ursachen über die Persistenz und die Legitimation bis hin zu den Folgen der Ungleichheit, ist die soziale Verteilungsgerechtigkeit ein weiter Begriff mit vielen Facetten. Grundlegend beschreibt es die ungleiche Verteilung von Gütern, seien es Vermögenswerte, Konsumgüter, aber auch Bildung oder der Zugang zu Kultur. Ebenfalls umfasst der Begriff eine soziale und subjektive Dimension, in welcher die persönlichen Netzwerke und Lebensformen sowie die Gesundheit und Selbstwirksamkeit des Individuums im Vordergrund stehen.
Für den Soziologen Reinhard Kreckel liegt soziale Ungleichheit dort vor, „wo die Möglichkeiten des Zugangs zu allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern und/oder zu sozialen Positionen, die mit ungleichen Macht- und/oder Interaktionsmöglichkeiten ausgestattet sind, dauerhafte Einschränkungen erfahren und dadurch die Lebenschancen der betroffenen Individuen, Gruppen oder Gesellschaften beeinträchtigt bzw. begünstigt werden.“ (Kreckel, 2004)
Eine einheitliche Definition und Systematisierung gibt es dabei trotz einer Vielzahl an Forschungsveröffentlichungen noch nicht. Dabei ist die soziale Verteilungsgerechtigkeit kein neues Problem, im Gegenteil, es besteht mit seinen Folgen für Individuen und Gesellschaft seit Jahrhunderten.
Persistenz von Ungleichheit
Es gibt verschiedene ökonomische Modelle, welche die Persistenz und die Folgen der sozialen Verteilungsgerechtigkeit thematisieren. Ein besonders bekanntes ist das der beiden israelischen Wirtschaftsprofessoren Oded Galor und Joseph Zeira. In ihrem 1993 veröffentlichten Papier „Income Distribution and Macrooeconomics“ bauen sie ein Modell auf, in welchem Individuen entweder für gewisse Kosten studieren, um dann später für einen höheren Lohn zu arbeiten, oder direkt für einen niedrigeren Lohn arbeiten können. Nachdem alle Individuen einen gewissen Anteil ihres verdienten Geldes konsumieren, vererben sie den Rest an die nächste Generation, welche erneut vor den selben beiden Entscheidungen steht.
Die Essenz des Modells besteht nun darin, dass es eine Trennstelle zwischen den Individuen gibt: Individuen, welche von Beginn an ein Vermögen über einen gewissen Grenzwert besitzen, können sich und den nachfolgenden Generationen stehts ein Studium und somit anschließend einen höheren Lohn finanzieren. Alle anderen Individuen werden sich auf Dauer das Studium nicht leisten können und arbeiten für den niedrigeren Lohn (Galor & Zeira, 1993).
Galor und Zeira bringen dadurch ein Phänomen auf den Punkt, welches wir in Deutschland wie auch in anderen Ländern sehen und das Staaten bei der Lösung vor enorme Probleme stellt: Ungleichheit führt über Generationen hinweg zu weiterer Ungleichheit.
In Deutschland zeigt sich dies symptomatisch an den Bildungsabschlüssen der Kinder. Im Jahr 2015 hatten 61 Prozent der Kinder, welche ein Gymnasium besuchen, Eltern mit einem hohen Bildungsabschluss und umgekehrt Kinder, welche die Hauptschule besuchen, zu 22 Prozent Eltern mit einem niedrigen Bildungsabschluss (DESTATIS, Mikrozensus). Die Zahlen sind seit Jahren auf einem ähnlich erschreckenden Niveau. Nun müssen Bildungsabschlüsse nicht zwangsläufig das Einkommen bestimmen, sie bilden jedoch die Grundlage für den weiteren Lebensverlauf.
Das vererbte Vermögen dagegen wirkt sich direkt auf die soziale Ungleichheit aus und auch hier sind die Zahlen extrem. Die einkommensstärksten 20 Prozent in Deutschland vererben mit fast 250.000€ im Schnitt ca. fünft mal so viel wie das mittlere Einkommensfünftel (Tiefensse & Grabka, 2017). In seinem berühmten Buch „Ein kurze Geschichte der Gleichheit“ führt der französische Ökonom Thomas Piketty die enorme Kraft des Erbens weiter vor und zeigt neben einem spannenden Lösungsansatz auf, dass durch einen hohen Kapitalzins die Ungleichheit nur zu- anstatt abnimmt.
Weitere verstärkende Effekte haben die Freundes- und Bekanntenkreise, mit welchen wir uns umgeben und welche uns Prägen. Unterschiedliche soziale Umfelder schaffen dabei unterschiedliche Prägungen. Schüler*innen, Studierende, Erwachsene, wir alle umgeben uns mit Menschen, welche ähnliche Interessen und Werte haben und welche wir oft auf der Schule, der Uni oder der Arbeit kennengelernt haben. „Outliers“, ein Buch von Malcom Gladwell, beschreibt die Effekte, welche die Prägung auf die Entwicklung der Persönlichkeit und somit die Chancen auf einen Beruf mit höherem Einkommen haben. Demnach wird Persistenz auch durch die Prägung bedingt, dass Kinder wohlhabender Familien nicht nur das Verhalten ihres Umfeldes erlernen, sondern auch direkt durch dieses profitieren.
Folgen
Soziale Ungleichheit hat eine Vielzahl an Folgen für Individuen und die Gesellschaft.
Für die Gesellschaft stellt eine größere Ungleichheit eine besondere Herausforderung dar. Die Gefahr einer Spaltung und Polarisierung ist enorm. Einkommensreiche Personen, welche von den bestehenden gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Systemen profitieren, haben dementsprechend auch mehr Vertrauen in diese und ein Interesse an ihrer Aufrechterhaltung. Gleichzeitig entwickelt sich in den unteren Einkommensklassen eine Entfremdung von der Gesellschaft und ihren Systemen. Der Verteilungsbericht 2023 der Hans-Böckler-Stiftung trägt den passenden Namen „Einkommensungleichheit als Gefahr für die Demokratie“. In ihm zeigen die Daten einen starken Zusammenhang zwischen dem Misstrauen in demokratische Institutionen und dem Vermögen. Auf einer Vertrauensskala von 0 bis 10 gaben Personen aus der Gruppe der dauerhaft Armen im Bezug auf die Politik und Politiker*innen je über 55% Werte unter 5 an. Für den Bundestag und das Rechtssystem waren es noch 47% bzw. 37%. Zum Vergleich: Bei Reichen lag der Anteil für Parteien und Politiker*innen bei ca. 37% und beim Bundestag und dem Rechtssystem 19% bzw. 8%. Dauerhaft Arme haben auch öfter das Gefühl, dass Menschen auf sie herabschauen, während Reiche davon ausgehen, dass man zu ihnen hochsieht (WSI-Verteilungsbericht 2023). Die Ergebnisse zeigen, wie sehr eine Gesellschaft unter Ungleichheit leiden kann.
Auf einer Individuellen Ebene hat soziale Ungleichheit mehrere Effekte: Im vorherigen Abschnitt wurden bereits die Auswirkungen der sozialen Herkunft auf die eigene Bildung thematisiert. Doch auch die individuelle Gesundheit leidet stark unter Armut und Arbeitslosigkeit. Die Angst um die Existenzsicherung, der Stress der finanziellen Lage und die gesellschaftliche Ablehnung erhöhen das Risiko von psychosomatischen sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dementsprechend ist die Lebenserwartung für Menschen mit hohem Einkommen ca. acht Jahre länger (BpB, 2023). Es ist eine logische Konsequenz, dass Armut auch zu Unzufriedenheit führt. Menschen betrachten ihren Wohlstand nie als absoluten Wert, sondern immer im Verhältnis zu dem anderer. In Ländern, in denen der Anteil der einkommensstärksten 1% am gesamten Einkommen größer ist, bewerten Menschen ihr Leben allgemein als schlechter. Ängste und Ärger neben als negative Emotionen zu und die empfundene Lebensqualität nimmt ab (Burkhauser et al., 2017).
Was bleibt?
Soziale Verteilungsgerechtigkeit gehört für Menschen zum Alltag. Wir sind es von Kind an gewöhnt, dass es unterschiedliche Vermögensstände gibt und sich daraus unterschiedliche Lebensrealitäten entwickeln. Seit Jahrhunderten hat sich eine Persistenz entwickelt, welche moderne Demokratien noch nicht zu brechen gewagt haben. Es gibt in der Ökonomie sogar durchaus Ansätze der Legitimation der Ungleichheit. Dabei wird dann oft von Anreizen und Verdiensten gesprochen. Die Folgen für das Individuum, aber auch für die Gesellschaft werden zu selten gesehen. Dabei stellt die soziale Verteilungsgerechtigkeit eine reale Bedrohung für den Zusammenhalt der Gesellschaft und für die Demokratie dar.
Quellen:
Galor, O., & Zeira, J. (1993). Income distribution and macroeconomics. The review of economic studies, 60(1), 35-52.
Tiefensee, A. & Grabka, M. (2017) Das Erbvolumen in Deutschland dürfte um gut ein Viertel größer sein als bisher angenommen, DIW Wochenbericht 27/2017
https://www.diw.de/de/diw_01.c.560996.de/publikationen/wochenberichte/2017_27_3/das_erbvolumen_in_deutschland_duerfte_um_gut_ein_viertel_groesser_sein_als_bisher_angenommen.html
DESTATIS (2016), Bildung der Eltern beeinfluss die Schulwahl für Kinder; https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2016/09/PD16_312_122.html (Aufgerufen am 01.09.2024)
Kreckel, R einhard (2004): Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit. 3. Aufl., Frankfurt/N ew York: Cam pus Verlag.
Hans Böckler Stiftung (2023), WSI Verteilungsbericht: Einkommensungleichheit als Gefahr für die Demokratie
Bundeszentrale für politische Bildung (2023), Soziale Ungleichheit
Burkhauser, R , De Neve, J.E. & Powdthavee, N. (2017) Top Incomes and Human Well-being around the World, Journal of Economic Psychology, 62, 247-257.