Beschreibung:
Schulden sind ein enormes Problem für viele Staaten des globalen Südens, von denen aktuell die Hälfte davon bedroht sind, in eine Schuldenkrise zu geraten und nicht mehr zahlungsfähig zu sein. Die Entwicklung von Schuldenkrisen wurde in den letzten Jahren durch Pandemie und hohe Zinsen verschärft, doch gemeinsam ist ihnen eine strukturelle Komponente globaler Abhängigkeit. An unserem zweiten AG-Wochenende wollen wir uns mit Schuldendynamiken im globalen Süden beschäftigen. Gemäß unserer Frage “Wer hat hier eigentlich die Schuld?” wollen wir uns dem Thema zuerst theoretisch nähern. Dazu gibt es einen Input von einer Referentin von debt for climate, einer Bewegung, welche auf den Zusammenhang von Schulden und Klimakrise aufmerksam macht. In einem zweiten Block sehen wir uns in Kleingruppenarbeit dann konkrete Fallstudien an. Dabei erkunden wir unter anderem die Verschränkung von Schuldenkrisen, Extraktivismus und Klimakrise und steigen je nach Interesse stärker theoretisch (z.B. globale Währungshierarchien) oder praxisorientiert (z.B. Besonderheiten bestimmter Regionen) ein. Hier wollen wir sichtbar machen, dass das Thema Schulden keineswegs rein technisch-ökonomisch ist, sondern zahlreiche Probleme der globalen Gerechtigkeit und der ökologischen Nachhaltigkeit vereint. Zuletzt wollen wir uns praktische Handlungsmöglichkeiten ansehen: Welche Initiativen und sozialen Bewegungen gibt es, die sich für eine Bewältigung bestehender und Verhinderung zukünftiger Staatsschuldenkrisen einsetzen? Und welche verschiedenen Lösungsvorschläge gibt es, was sind ihre Vor- und Nachteile und wie vielversprechend sind sie? Wie können wir selbst aktiv werden? Eventuell findet dieser Block gemeinsam mit der NGO Erlassjahr statt, einer Organisation, die sich u. a. für faire und transparente internationale Entschuldungsmechanismen einsetzt.
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Protokoll 2. AG-Treffen AG “sozial-ökologisch Wirtschaften”: “Wer hat hier eigentlich die Schuld? - Schuldenkrisen im globalen Süden zwischen Klima und Neokolonialismus”
Veranstaltungsdatum und-ort: 31.05.2024 (18 Uhr) bis 02.06.2024 (14 Uhr), K20
Projekthaus Knickstraße 20, 37574 Einbeck
Nach Ankunft aller Seminarteilnehmer:innen und gemeinsamen Abendessen starteten wir am Freitagabend in das AG-Wochenende mit dem Schauen der Dokumentation “Sri Lanka’s Debt Crisis - Who is really to blame?”, die die Hintergründe der Staatschuldenkrise in Sri Lanka 2022, die Rolle bestimmter Finanzprodukte in dieser und deren Verbindung zur Klimakrise aufzeigte. Wichtige Kernbotschaften dieser Dokumentation waren zum einen, dass Staatsverschuldung in Fremdwährung für Staaten des globalen Südens ein enormes Risiko darstellen kann. Zum anderen wurde aufgezeigt, dass die Unwilligkeit von Gläubigern zur Streichung bzw. Umstrukturierung der Schulden von Staaten des Globalen Südens oft dazu führt, dass diese Staaten fossile Rohstoffquellen ausbeuten, um kurzfristig ihre Schulden bedienen zu können, und einen enorm hohen Anteil ihres Staatshaushaltes für den Schuldendienst aufwenden müssen, worunter im Gegenzug Investitionen in Klimaschutz oder soziale Bereiche leiden.Am Samstag Vormittag hielt Louise, eine Aktivistin von debt for climate, einen Input mit dem Titel “Die eierlegende Wollmilchsau: Schuldenstreichung. Warum eine globale Front gegen das Verschuldungssystem unabdingbar für Klimagerechtigkeit ist”. Dieser gab einen tieferen Einblick in die Zusammenhänge zwischen der globalen Schuldenarchitektur, Extraktivismus und der Klimakrise, die bereits am Vortag durch die Dokumentation angerissen wurden. Louise erzählte ebenfalls über die Arbeit von debt for climate und Möglichkeiten, in der Schuldengerechtigkeitsbewegung aktiv werden zu können. Key-take aways des
Vortrags von Louise waren:
● 1. Das Thema Verschuldung / Schuldenkrise wirkt oft hochkomplex und wird deshalb (vermeintlichen) Expert*innen überlassen und nicht von politischen Bewegungen aufgegriffen. Dabei spielt der Schuldendienst, vor allem wenn Länder kritisch verschuldet sind, eine zentrale Rolle für viele politische Entscheidungen und für soziale Gerechtigkeit.
● 2. Schulden müssen machtpolitisch und historisch kontextualisiert werden. So befinden sich Schulden nicht in einem luftleeren Raum, sondern sind T eil einer Finanzarchitektur die stark durch koloniale Kontinuitäten geprägt sind. So sind nicht nur viele Schulden direkt oder indirekt illegitime Schulden der Kolonialzeit, die die unabhängigen Länder übernehmen mussten, sondern verschuldete Länder haben je nach Machtposition und Art der Verschuldung unterschiedliche Instrumente zur Verfügung, wie sie mit Verschuldung umgehen können. Diese äußeren Faktoren sind maßgeblich dafür, wie eine ähnlich hohe Verschuldung verschiedene Länder sehr unterschiedlich betrifft.
● 3. Wie schon angesprochen, ist die Schuldenkrise stark mit der Klimakrise verknüpft. Dies wird bei einer genaueren Betrachtung von Themenfeldern wie Extraktivismus, Naturkatastrophen, Waldrodungen, Landraub und Landwirtschaft deutlich. Die Schuldenkrise hat aber auch darauf hinaus Auswirkungen auf andere soziale Krisen, wie zum Beispiel auf Flucht und Migration, sexistische Gewalt und die Stellung und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse.
● 4. Das Thema Schuldenkrise ist nicht (nur) fern und mit kaum erreichbaren internationalen Akteuren verbunden. So spielt auch Deutschland als viertgrößte Stimmrechtsmacht im IWF eine wichtige Rolle. Louise zeigt daher anhand von debt for climate auf, wie man innerhalb Deutschlands und international zu dem Thema politisch aktiv werden kann. Nach Louises Input und der Mittagspause starteten wir in die Kleingruppenarbeiten, die von Florian, Franz und Lisanna betreut wurden. Die Gruppen haben zu folgenden Themen gearbeitet:
● Lisanna. Thema: Was sind die strukturellen Gründe für die globale
Schuldenkrise? Gemeinsam sind wir nochmal vertieft auf die Gründe für die globale Schuldenkrise eingegangen, welche Louise bereits angesprochen hat. Dabei haben wir uns vor allem mit den Verflechtungen mit der Klimakrise, mit Extraktivismus und mit Ungleichheiten im internationalen Finanzsystem, wie neokolonialen Strukturen und internationalen Vormachstellungen in der
Geldpolitik, beschäftigt. Dabei haben alle aus der Gruppe eigene Beispiele eingebracht und wir haben gemeinsam analysiert, welche Rolle Verschuldung dabei spielt. Außerdem ging es auch konkret um den Mechanismus der debt for climate swaps und inwiefern diese eine kurzfristige Lösung für Überschuldung darstellen könnten. In dem Bezug haben wir kritisch festgestellt, dass diese swaps viele Verschuldungsdynamiken sogar noch verstärken könnten. Offene Fragen blieben, wie strukturelle Probleme, wie zum Beispiel globale Währungshierarchien und das Fehlen eines internationalen Kreditrechts, angegangen werden können.
● Florian. Thema: Das internationale Schuldenmanagement mit besonderem Fokus auf den IWF und konditionale Kredite. In Florians Kleingruppe haben wir uns zuerst einen Überblick über die verschiedenen Institutionen im globalen Schuldenmanagement (Paris Club, IWF , London Club…) gemacht und den üblichen Ablauf einer Umstrukturierung nachvollzogen. Dazu wurde auf Grundlage einer Grafik von Erlassjahr ein Plakat erstellt. Danach haben wir uns auf Basis eines T extes mit der Frage beschäftigt, welche Auswirkungen die sogenannten “Strukturanpassungsprogramme” des IWF auf
Wirtschaftswachstum, Ungleichheit und den Sozialstaat haben. Zuletzt haben wir uns auf Grundlage eines weiteren Textes mit der historischen Entwicklung des IWF als eines Hauptakteurs in der Verbreitung neoliberaler Politiken auseinandergesetzt. Kernbotschaften dieser Kleingruppe waren:
○ Um Schuldenumstrukturierung durch den Paris Club zu erlangen, müssen Schuldnerländer in einem IWF Programm teilnehmen.
○ Die Strukturanpassungsprogramme des IWF sollen für
Wirtschaftswachstum sorgen, ob sie dieses Ziel tatsächlich erreichen, ist jedoch umstritten. Stattdessen gibt es eine breite Evidenz dafür, dass die Programme die Austeritätspolitik dieser Programme Ungleichheit und Krisenanfälligkeit verstärken.
○ Der IWF hatte ursprünglich ein Neutralitätsgebot, das es ihm untersagte, zu stark in die Wirtschaftspolitik der Schuldnerländer einzugreifen. Diese Norm wurde durch den Baker-Plan, eine Kampagne des US-Finanzministeriums, ausgehebelt.
● Franz. Thema: Zusammenhang zwischen Geld, Kredit und Schulden. In Franz’ Kleingruppe ging es um grundlegende Mechanismen der Geldschöpfung und Staatsverschuldung, um vor diesem Hintergrund
Staatschuldenkrisen verstehen zu können. Zur Vertiefung lasen und diskutierten wir einen Text, der Vorschläge zur Reform des Internationalen Währungsfonds aufzeigt, um Länder des globalen Südens im globalen Währungssystem besserzustellen und ebenso für den Kolonialismus zu entschädigen. Kernbotschaften dieser Kleingruppe waren folgende:
○ Der größte T eil der Geldschöpfung entsteht durch die Vergabe von
Krediten von Geschäftsbanken.
○ Geld ist Ausdruck einer sozialen Schuldbeziehung. Das Nettogeldvermögen der Welt ist 0, weil sich Geldvermögen und Geldschulden immer zu 0 addieren. Daher ist das Machen von Schulden nicht per se schlecht, sondern überlebensnotwendig für moderne Geldwirtschaften.
○ Weil Schulden strukturell notwendig für Geldwirtschaften sind, sollte esstrukturelle Verfahren für insolvente bzw. illiquide Schuldner geben. Während dies auf natioanler Eeben der Fall ist, gibt es solche Verfahren auf internationaler Ebene nicht für Staaten.
○ Geld- und Währungssysteme sind hierarchisch. Weil Regierungen des globalen Südens meist in Fremdwährung ein Problem, ist dies für sie ein Problem, weil ihre Zentralbank sie wegen der Fremdverschulden nur begrenzt unterstützen kann. Nach der Kleingruppenarbeit trugen wir die Ergebnisse der Kleingruppen zusammen und beendeten damit den Seminartag. Anschließend gingen wir noch gemeinsam Essen und ließen den Tag mit einem Spieleabend ausklingen. Sonntagmorgen erhielten wir noch einen Input von Kristina Rehbein von der NGO Erlassjahr. In ihrem Input ging es um Ansätze zur Organisation eines Staatsinsolvenzverfahren auf internationaler Ebene. Im Anschluss an Kristinas Vortrag gab es noch eine Kleingruppenarbeit, in der Lösungsmöglichkeiten für die verschiedenen Dimensionen bzw. für verschiedene Teil-Probleme des aktuellen Schuldenmanagementsystems diskutiert wurden. Nach Zusammentragung der Kleingruppenergebnisse und einer Feedbackrunde endete um 14 Uhr das 2.AG-Treffen.